Lügen mit Zahlen – Heute: Der angebliche „Gaspreisschock“

Statistiken erstellen geht immer auch mit Botschaften einher, die ich damit vermitteln will. Ein aktuelles Beispiel: Der angeblich dramatische Anstieg der Gaspreise, der seit ein paar Tagen ganz Europa beschäftigt.
Spoiler: Kein Grund zur Panik – Und gleichzeitig ein zentraler Grund, die Energiewende konsequent voranzutreiben.

Statistiken erstellen, geht immer auch mit Botschaften einher, die ich damit vermitteln will. Ein aktuelles Beispiel: Der angeblich dramatische Anstieg der Gaspreise, der seit ein paar Tagen ganz Europa beschäftigt.
Spoiler: Kein Grund zur Panik – Und gleichzeitig ein zentraler Grund, die Energiewende konsequent voranzutreiben.

Die Nachrichten überschlagen sich mal wieder: „Erdgas wird immer teurer – und das schon lange. Seit Jahresmitte hat sich der Preis im europäischen Durchschnitt beinahe verdreifacht. Überall in der EU warnen Fachleute vor einer möglicherweise kritischen Versorgungslage im Winter und vor einer weiteren Preiserhöhung“ (ARD, Tagesschau Online, 23.9.2021)
In Großbritannien gehen Versorger pleite und große Fabriken stellen ihre Produktion ein – angeblich wegen der stark angestiegenen Rohstoffpreise.
Und auch die sonst eher um sachliche Informationen bemühten Macher von finanztip.de zeichnen ein scheinbar düsteres Bild:

Immer wenn ich solche Grafiken sehe und Diskussionen beobachte stellt sich für mich sofort die Frage: Hatten wir das nicht schonmal?
Und dann suche ich nach Statistiken, die über deutlich längere Zeiträume verfügbar sind. Und Bingo!

Quelle: https://www.finanzen.net/rohstoffe/erdgas-preis-natural-gas/chart/euro, 24.9.2021

Wer sich die Mühe macht, mal etwas länger zurückzuschauen wird schnell sehen, dass die aktuellen Preise hoch aber nicht außergewöhnlich hoch sind sind und wenn überhaupt, die niedrigen Preise des letzten Jahres (Corona-bedingt?) eher besonders niedrig waren.
Und wir sehen auch, dass Schwankungen nicht ungewöhnlich sind. Wer früher noch Kohlen kaufen musste oder im Herbst Heizöl liefern lässt weiß seit langen: Pünktlich zu Beginn der Heizsaison steigen die Preise und machen Händler*innen Kasse.

Spannend in diesem Zusammenhang ist, dass die Preise aktuell schon wieder sinken und auch im Termingeschäft für nächstes Jahr bereits wieder deutlich günstigere Einkaufspreise erwartet werden:

Quelle: https://www.finanzen.net/rohstoffe/erdgas-preis-natural-gas/chart/euro, 24.9.2021

Warum dann die Diskussion? Ich will nicht spekulieren und konzentriere mich auf ein paar allgemeine Beobachtungen meinerseits:
1. Wir kennen das Spiel seit Jahren von der Tanksäule. Pünktlich vor jeder größeren Reisesaison ziehen Preise auf magische Weise an. Angebot und Nachfrage halt – wir leben ja schließlich in einer Marktwirtschaft. Spannend aber zu sehen, dass danach die Preise selten im gleichen Umfang wieder sinken. Und dass sinkende Einkaufpreise im Regelfall nicht im gleichen Maß and Verbraucher*innen weitergegeben werden wie steigende Kosten ist mittlerweile ja mehrfach belegt worden.
2. Meldungen von stark steigenden Gaspreisen motivieren also Verbraucher*innen dazu, ihre eigenen Verträge zu prüfen und ggf. scheinbar günstige „Preissicherungsdeals“ einzugehen. Falls dann die Preise wieder nach unten gehen sind Kund*innen also erst einmal für eine Weile trotzdem eingeloggt und die Differenz kassiert der Versorger ein. Perfektes Marketing – auf Kosten der Verbraucher*innen. Marktwirtschaft halt…
3. Seit Öffnung (und Privatisierung) der Energiemärkte kommt es immer wieder auch zu Pleiten einzelner Versorger. Warum? Weil sie sich verspekuliert haben! Wer zu Zeiten niedriger Rohstoffpreise mit Kampfangeboten und Lock-Deals versucht, Kund*innen zu gewinnen handelt zwar auch erst einmal klassisch marktwirtschaftlich (Wettbewerb und so…). Wenn das Geschäftsmodell aber nicht darauf ausgelegt ist, nachhaltig wirtschaftlich zu funktionieren und bei steigenden Einkaufspreisen sofort zum Problem wird, hat schlecht gerechnet und auf dem Markt auch nix zu suchen.
4. Dass die britische Regierung innerhalb weniger Tage privaten Industrieunternehmen mit 3-stelligen Millionenbeträgen „unter die Arme greift“ um weiter zu produzieren zeigt mir nur einmal mehr wie sich Politik auf Basis unhaltbarer Panikmeldungen immer wieder am Nasenring durch die Manege ziehen lässt. Was ich in dem spezifischen Fall noch viel weniger verstehe: Die Hilfe war angeblich notwendig, weil ganz viele andere Unternehmen auf das als Nebenprodukt hergestellte CO2 angewiesen sind und dramatische Engpässe drohten. Ich gebe zu, ich bin hier kein Experte aber ist das nicht genau das gleiche CO2, von dem wir gerade eher deutlich zu viel produzieren?
5. Richtig politisch wird es, wenn mensch sich anschaut, wie dann bestimmte Player sofort versuchen, das Thema zu framen. Da ist wieder alles aus der Mottenkiste dabei: CO2-Steuer muss weg, weil kostet Geld. EEG muss weg, weil erhöht den Preis. Netzentgelte müssen runter, weil kostet Geld. Steuern müssen runter – You’ll get the pattern… Selbst die Atomenergie wird aktuell ernsthaft wieder als Option angeboten. Ein Schelm wer denkt, es könnten nur Krokodilstränen sein, die manche Politiker*innen und Lobbyist*innen da gerade rollen lassen…
6. Die ernsthafte Gefahr besteht, dass durch kurzfristige „Entlastungsmaßnahmen“ der aktuelle Status Quo weiter verfestigt wird und tatsächlich notwendige Veränderungen noch schwieriger werden.

Was können (oder sollten) wir lernen?
1. Statistiken lügen nicht, aber sie werden gemacht von Menschen, die damit eine Geschichte vermitteln wollen. Es ist immer gut, das zu hinterfragen bevor darauf basierend Entscheidungen getroffen werden!
2. Solange unsere Wirtschaft auf begrenzt verfügbaren Ressourcen basiert wird es basierend auf Verfügbarkeit und aktuellem Bedarf Schwankungen in den Preisen geben. Das gilt erst Recht für die Ressourcen, die endlich sind – nicht zuletzt, weil der Aufwand, die letzten Tropfen Öl, Gas etc. aus dem Boden zu holen immer größer wird.
3. Umso wichtiger ist es, noch schneller die Abhängigkeit von diesen endlichen Ressourcen zu beenden. Auch Erdgas ist klimaschädlich! Das der Preis also steigt kann nur gut sein – wenn es dazu führt, dass endlich konsequent nach Alternativen Ausschau gehalten wird.

Autor: tomatenfisch

If I can´t dance to it, it´s not my revolution. emotionale Dampfwalze eitle Rampensau immerwaehrender Besserwisser und trotzdem gibt es Leute die mich moegen. Verrückt. :-) Fav's: Stockholm; Punk; IndieRock; Dancing; Parties; Running; Vodka; NewEngland; RedSox; Tea; JellyBeans; Books; Movies; RadioEins and about thousand other things that make life worth living every single day...

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